Nach dem hundertsten Todestag Rudolf Steiners vergegenwärtige ich mir eine Mission, die er auf dieser Welt zu vollbringen hatte. Als ihn einmal Ehrenfried Pfeiffer fragte: “Wo sind denn jetzt die Eingeweihten der Menschheit, wo ein solches Werk wie das Ihrige auf dem Spiel steht?”, antwortete Rudolf Steiner: „Jetzt kommt es darauf an, dass die höheren Wahrheiten durch das Denken ergriffen werden. Wenn Sie diesen Eingeweihten heute begegneten, würden Sie an ihnen vielleicht gar nicht das finden, was Sie suchen. Sie hatten ihre Aufgabe mehr in früheren Inkarnationen. Jetzt muss das Denken der Menschen spiritualisiert werden.“[1]
Im Kontext der Spiritualisierung des Denkens beschrieb Rudolf Steiner in ,,Der Vor-Michaelische und der Michaels-Weg “[2] das Verhältnis des Gedankens zum Menschenwesen. Dort schilderte er, wie das Erleben des Gedankens am Anfang der Menschheitsentwicklung im „Ich“ stattfand, dann auf der zweiten Etappe im Astralleib, auf der dritten im Ätherleib bis er schließlich auf der vierten, gegenwärtigen Etappe im physischen Leib, im Gehirn, erlebt wird. Der Gedanke muss jedoch vom physischen Leib mit der Michaelskraft ins Ätherische erhoben werden. Die Übungen zum Reinen Denken in “Die Philosophie der Freiheit” dienen dazu.
Das Mysterienwesen folgte durch die Jahrtausende einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, die dem Erleben des Gedankens im Menschenwesen entsprach. So erfolgten die Einweihungsriten mittels Prüfungen, die der Einzuweihende zu bestehen hatte; und zwar zunächst im Physischen, im Erkraften des Willens, wo der Mensch physische Hindernisse und Schmerzen überwinden und aushalten musste, um den Christus, der noch nicht auf der Erde inkarniert war, zu erfahren. In späteren Zeiten mussten die Prüfungen im Seelischen, im Erkraften des Fühlens, stattfinden, z.B. durch das Widerstehen von Gelüsten und Verführungen.
Wie muss sich heute die Einweihung, also das Christuserleben, vollziehen? Wie sieht unsere Prüfung aus?
Aus dem Ausgeführten geht hervor, dass wir nun der Gesetzmäßigkeit folgend eine „Denkprüfung“ zu bestehen haben, eine „Denkprobe“, in der wir den Denkstoff in uns ergreifen und ihn dem ätherischen Lichte entgegenhalten. So wie die Bildekräfte in der Pflanze das Mineralreich ergreifen und es metamorphosieren, umgestalten, umbilden und es dem Sonnenlicht gegenüberstellen, so sollten wir unser Denken so stark ergreifen und erkraften, dass es vom Physischen (vom Mineralreich) gelöst wird und im Ätherischen lebt.
Wenn wir auf das schriftliche und das Vortragswerk Rudolf Steiners hinschauen, so bemerken wir beim Studieren, dass die Art, wie er seine Weltanschauung darlegte, zunächst nicht leicht zu verstehen und mit dem Denken zu durchdringen ist. Vor allem die „Philosophie der Freiheit“ fordert unser Denken heraus. Erkennen wir diese Herausforderung als eine “Denkprobe” an, so bemühen wir uns mit Enthusiasmus sie zu bestehen, indem wir den Inhalt so vertiefen, dass wir ihn aus uns heraus wiedergeben können. Haben wir den erkenntnistheoretischen Gedankengang verstanden und unser Denken dahin gehoben, wo sich das Denken Steiners beim Schreiben des Buches befand, so gilt dieser Prozess als eine Art Spiritualisierung des Denkens. Das Gebiet in der Philosophie der Freiheit, das einmal verborgen war, wird uns erlebbar; es wird wahrgenommen. So wie es eine geistige Welt gibt, in der wir alle mit unserem denkenden Ich stehen und die unserer Wahrnehmung so lange verborgen bleibt, bis wir die hellsichtigen Organe entwickelt haben, so bleibt uns der rein geistige Stoff der Philosophie der Freiheit verborgen, bis wir unser Denken darauf erhoben haben. Unser Denken wird zu einem Wahrnehmungsorgan, das uns das Verborgene offenbart. Diese Schulung verhilft uns auch, sein späteres esoterisches Werk im Geiste zu erkennen und es nicht nur zur Kenntnis zu nehmen.
Die Schulung des Denkens in spirituellen Zusammenhängen ist jedoch gerade ein Grund, warum viele Menschen vor der Anthroposophie zurückschrecken. Auch Menschen mit spiritueller Orientierung können Antipathie gegen die Anthroposophie entwickeln, da viele glauben, Denken und Spiritualität seien Gegensätze. Oft glaubt man, allein durch Herzöffnung und „Stille-Werden“ seine Seele entwickeln zu können. Oder man kämpft auf rein intellektueller Weise um Erkenntnis. Rudolf Steiner zeigte jedoch, es braucht ein fühlendes Denken, ein denkendes Fühlen, ein fühlendes Wollen, ein wollendes Denken, ein denkendes Wollen und ein wollendes Fühlen, um eine zeitgemäße Seelen- und Geistentwicklung zu erreichen. Versteht man den Inhalt der Philosophie der Freiheit, ohne sie mit Liebe zu bestrahlen, so bleibt man im Intellektuellen und schafft nicht die Brücke zu der spirituellen Seite der Anthroposophie. Fühlt man nur die Inhalte der Anthroposophie, bleibt man im Traumzustand. Bleibt man nur bei der Praxis der Anthroposophie, also beim Anwenden der anthroposophischen Methodik in den Tochterbewegungen, ohne selbstständiges Denken und Fühlen, so bleibt man im Schlafzustand.
Rudolf Steiner würde sagen: Erhebe dein Denken zu den Ätherkräften. Verbinde es mit deiner Liebe Kraft. Erkrafte es mit deinem Willen. Denn das Denken, das mit intentionalisierter Liebe durchdrungen ist, ist dein Weg zur Einweihung.
[1] Rittelmeyer, Friedrich, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, Stuttgart 1981, S.103
[2] GA 26, Anthroposophische Leitsätze, Der Vor–Michaelische und der Michaels–Weg.
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