100 Jahre nach Rudolf Steiners Tod stehen wir immer noch tief erschüttert vor dem unfassbaren Wunder seines Werkes, dem umfangreichsten Werk, das jemals ein Mensch hinterlassen hat, und in dem sich nicht ein einziger Gedanke, ein Satz oder eine Tat finden, die Rudolf Steiner eigennützig für sich selbst intendierte. Dieses Werk ist ein reines Geschenk an die Menschheit. Es stellt die Philosophie erstmals seit Plato und Aristoteles auf eine ganz neue Grundlage; es beantwortet die tiefsten Lebens- und Daseinsfragen der Menschheit in einer modernen, nachvollziehbaren Weise: Was ist der Mensch? Woher kommt die Welt? Was ist die Natur? Warum ist alles entstanden und wohin wird es führen? Wie verstehen wir Christus?; es inspiriert neue Künste, die Eurythmie, Sprach- und Theaterkunst, Malerei, Plastik, Architektur – und schenkt eine neue Praxis in Pädagogik, Heilpädagogik, Medizin, Landwirtschaft, christlicher Kirche, und in vielen anderen Lebensbereichen.
Marie Steiner von Sivers schrieb einmal in einem Brief an Édouard Schuré über Rudolf Steiner und sein Werk: „Die vollkommene Synthese aller Wissenschaften zu sein, verstandesmäßig alles zu umfassen, was vom Verstand erfasst werden kann, es dann in die reinste Spiritualität zu erheben, es dort niederzulegen wie in einen edlen Kelch, es ist dies ein Ton, der in dieser Vollkommenheit auch nur einmal angeschlagen werden kann.“[1]
Rudolf Steiner selbst nahm das alles nicht für sich in Anspruch: „Ich bin in solchen Dingen nur Werkzeug von höheren Wesenheiten, die ich in Demut verehre. Nichts ist mein Verdienst, nichts kommt dabei auf mich an. Das einzige, was ich mir selbst zuzuschreiben habe, das ist, dass ich eine streng Trainierung durchgemacht habe, die mich vor jeder Phantastik schützt. Dies war für mich Vorschrift. Denn, was ich erfahre auf geistigen Gebieten, ist dadurch frei von jeder Einbildung, von jeder Täuschung, von jedem Aberglauben.“[2]
1934 schrieb der katholische Schriftsteller und Existenzphilosoph Theodor Haecker, ein Inspirator und Mentor von Hans und Sophie Scholl[3]:
„Würde der Menschheit ein Mann geschenkt werden von derselben Heiligkeit der Gefühle, und brennenden Gottesliebe, verbunden mit derselben natürlichen Macht des Intellekts, mit derselben unablenkbaren, unbeirrbaren, lichtstrahlgleichen Kraft des Willens in der Zusammenschau, die den Engel der Schule, Thomas von Aquin, ausgezeichnet haben; könnte und würde dieser Mann kraft solcher natürlichen und übernatürlichen Kräfte und Gaben noch einmal zusammenraffen alles seitdem errungene Wissen, errungen von Gläubigen und Ungläubigen, einigen alle Weisheiten des Ostens und Westens; gäbe er uns das Auseinander und Ineinander der essentiellen und existentiellen Ordnungen der Schöpfung in Metaphysik, Kosmologie, Zoologie und Anthropologie, in Biologie und Psychologie, in der Philosophie der Natur wie der Geschichte – er würde das von Thomas siegreich errungene Prinzip der Analogia entis [Ähnlichkeit der Natur mit dem Schöpfer] in noch höhere Höhen heben, in noch tiefere Tiefen senken, er würde es ganz von selber steigern zur Analogia trinitatis [Ähnlichkeit der Beziehungen in der Natur zu denen der Trinität].“[4]
Was Haecker damals wie eine Zukunftshoffnung aussprach, war in Wirklichkeit schon geschehen. Seine Worte sind wie ein geistiger Nachruf auf Rudolf Steiner – dessen innere Beziehung zu Thomas von Aquin ja gut bekannt ist[5] – und dessen so grundlegenden, erneuernden und heilenden anthroposophischen Dreigliederungsgedanken.
Heute wird wieder von vielen versucht, Rudolf Steiners Name mit Schmutz zu bewerfen. Abgesehen davon, dass man sich selbst davon nicht beirren lassen sollte, kann man nur sagen: Sie wissen nicht, was sie tun. Es wird noch etwas dauern, bis sich Menschen in größerer Zahl und weiterem Umfang als es bisher geschah für Rudolf Steiner und die Anthroposophie interessieren werden. Aber diese Zeit wird kommen. Bis dahin gilt es, die Flamme zu schützen, zu pflegen und weiterzugeben.
[1] Brief vom 25. August 1907 in: Rudolf Steiner Marie Steiner-von Sivers Briefwechsel und Dokumente 1901-1925. (GA 262), Dornach 2002, S. 191.
[2] Brief an Eliza von Moltke vom 12. August 1904. In: Helmuth von Moltke 1848-1916. Dokumente zu seinem Leben und Wirken. Bd. 2. Briefe von Rudolf Steiner an Helmuth und Eliza von Moltke. Basel 1993, S. 49.
[3] Siehe den schönen Bericht in „Die Tagespost“: https://www.die-tagespost.de/kultur/zur-erinnerung-an-theodor-haecker-art-206950
[4] Theodor Haecker: Schöpfer und Schöpfung. Leipzig 1934, S. 143-144.
[5] Siehe Wilhelm Rath: Rudolf Steiner und Thomas von Aquino, Basel 1991; sowie Thomas Meyer: Rudolf Steiners „eigenste Mission“, Basel 2009.
| Dr. Christoph Hueck
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