Geburts- und Todestage sind Anlässe, sich mit wichtigen Persönlichkeiten der Geistesgeschichte zu befassen. Im Mittelpunkt stand und steht für uns in diesem Jahr dabei natürlich Rudolf Steiner und sein 100. Todestag im vergangenen März. Im Juni aber können wir noch an eine ganz andere große Persönlichkeit erinnern, die von 1875 bis 1925 Zeitgenosse Steiners war: an Thomas Mann, der am 6. Juni vor 150 Jahren geboren wurde. Und am 12. August können wie seiner noch einmal gedenken, weil er da nämlich seinen 70. Todestag hat. Auch Thomas Mann hat ein Werk geschaffen, das für unsere Kultur von Bedeutung ist. Steiner und Mann haben allerdings voneinander kaum Kenntnis genommen, obwohl das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gut möglich gewesen wäre. Es gibt nur eine sehr kritische Äußerung Steiners zu Manns Essay „Friedrich und die große Koalition“ (25.5.1916, GA 167), in dem der Dichter eine Parallele zwischen Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg und Deutschland im Ersten Weltkrieg zieht. Ansonsten haben sich die beiden mit Schweigen bedacht, wenn sie sich denn überhaupt wahrgenommen haben. Die 1901 erschienenen „Buddenbrooks“, für die Thomas Mann später den Literaturnobelpreis bekam, hätte Rudolf Steiner gelesen haben können. Aber irgendwie sind diese beiden Männer so verschieden, dass man fast nicht in einem Atemzug nennen kann. Und doch sind zumindest bei einem Werk Manns erstaunliche Parallelen zu Steiner ausfindig zu machen: beim „Zauberberg“ nämlich. Denn Hans Castorp durchläuft hier bei seinem siebenjährigen Aufenthalt auf dem Zauberberg (Davos) einen Bewusstseinsprozess, der dem einer Initiation gleicht. Auch andere Motive aus Steiners Werk sind in diesem Buch ausfindig gemacht worden,[1] ohne dass sie auf dessen Lektüre zurückzuführen wären.
– Warum aber leben diese beiden Zeitgenossen so aneinander vorbei. – Vermutlich sind die Lebensgesten einfach zu verschieden. Auch wenn beide ungeheuer arbeitsam waren und jeweils ein monumentales Werk hinterlassen haben, so steht doch Steiner in seinem Arbeiten immer im unmittelbaren Kontakt zu seinem Publikum und seinen Mitarbeitern – als Beispiel mag man da an seine Arbeit an den Mysteriendramen denken, die oft erst, während schon geprobt wurde, weitergeschrieben wurden –, während Mann in der disziplinierten Zurückgezogenheit in seinem Arbeitszimmer mit der Penetranz des steten Tropfens seine Steine ziseliert. Während Thomas Mann in seiner Delikatesse, die sich vorzüglich aus Ironie und Erotik gestaltet, sich dem Geistigen über das Prinzip der Entsagung nähert, scheint Rudolf Steiner solche Subtilitäten für den Zugang zum Geist weder zu kennen noch zu brauchen. Seine Wege sind die der Schulung und des Willens – und einer Unmittelbarkeit im Zugang zu einer geistigen Welt, die Thomas Mann vermutlich viel zu direkt gewesen wäre.
So wie Steiner einmal über Goethe sagt, dass er bei all seiner Verehrung für ihn doch wahrscheinlich den „dicken Geheimrat“ im direkten Erleben nicht hätte ertragen können, so könnte es auch sein, dass sich Mann und Steiner – obwohl Zeitgenossen – so unmittelbar nicht hätten ertragen können. Dabei vereint sie doch je auf ihre Weise eine intensive und begeisterte Beschäftigung mit Goethe.
[1] Vgl. Marcus Schneider: Tempel der Initiation, in: Das Goetheanum, 3.10.1924.
| Dr. Ruth Ewertowski
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