30 Jahre lang leitete Dr. Jörg Ewertowski die Bibliothek im Rudolf Steiner Haus. Nun tritt er in den Ruhestand und blickt auf die Wege zurück, die ihn erst zur Anthroposophie und dann nach Stuttgart geführt haben.
Während meines Zivildienstes in der Friedrich-Fröbel-Schule für »geistig« behinderte Kinder in Hanau arbeitete ich 1981/82 mit Ilse zusammen, einer Erzieherin, deren Fähigkeiten im Umgang mit den liebenswerten, aber nicht ganz einfachen Kindern mich immer wieder beeindruckte. Sie besuchte damals einen berufsbegleitenden Kurs in anthroposophischer Heilpädagogik, wo man das Kapitel über das Wesen des Menschen aus der »Geheimwissenschaft« las. Ilse schenkte mir eine Taschenbuchausgabe der »Geheimwissenschaft« – nicht weil sie so begeistert von dem Buch gewesen wäre, sondern weil sie die Sache mit den Wesensgliedern und den Naturreichen nur schwer verstehen konnte. Sie wusste, dass ich mich mit Philosophie beschäftigte, und bat mich, das Kapitel zu lesen und es ihr zu erklären. Das machte ich gerne, aber beim Kapitel über die Weltentwicklung legte ich das Buch wieder beiseite. Während meines Studiums der Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft begegnete ich dann keinem weiteren Buch Rudolf Steiners mehr, nur der Monographie über den Logos von Wilhelm Kelber aus dem Verlag Urachhaus. Erst nach dem Magisterabschluss meines Studiums, in der Arbeit an meinem Dissertationsprojekt zu Schelling und in den Wirren der Frage, wie es denn nun im Leben weitergehen könnte, erinnerte mich das Weleda-Heft beim Zahnarzt an die Anthroposophie und an die fast vergessene Sache mit den Wesensgliedern und Naturreichen. Durchaus skeptisch, aber auch neugierig besuchten meine Frau Ruth und ich Pfingsten 1993 eine anthroposophische Einführungsveranstaltung im Frankfurter Rudolf Steiner Haus. Dort lernten wir Wolfgang Kilthau, Stephan Stockmar, Barbara Messmer und Hans Georg Krauch kennen, und ich besuchte bald ein Kolloquium des Hardenberg-Instituts, in dem die Teilnehmer Steiners Aufsatz »Philosophie und Anthroposophie« lasen. Auch eine Veranstaltung von Justus Wittich auf dem Hof in Frankfurt-Niederursel ist mir in Erinnerung, wo ich dann auch nochmals mit dem Kapitel über die Weltentwicklung konfrontiert wurde, aus dem ich 1982 ausgestiegen war.
Während meines Studiums hatte ich in der riesigen religionswissenschaftlichen Fachbereichsbibliothek im Turm der Universität gearbeitet, wo die wenigen Bücher Steiners in der Sektenecke neben Ron Hubbart standen – und das war so ziemlich der einzige Winkel dieser Bibliothek, den ich damals nicht erkundet hatte. Erst später hatte ich gezielt danach gesucht und einige wenige Ausgaben entdeckt. Heute ist es dort mit Sicherheit anders, denn keine wissenschaftliche Bibliothek wird Bücher des renommierten fromman-holzboog Verlags in einer solchen Ecke unterbringen. Seit 2013 erscheint das geschriebene Werk Rudolf Steiners dort in einer soliden wissenschaftlichen Ausgabe neben den kritischen Ausgaben Schellings und anderer wichtiger Geistesgrößen.
Es war dann am 2. Mai 1994 im Auto, nach dem Kolloquium zu Philosophie und Anthroposophie, als Barbara Messmer, die ich ein Stück Wegs mitnahm, mir beiläufig von Stuttgart erzählte, wo man im dortigen Rudolf Steiner Haus einen Bibliothekar suche ... Am 8. Mai fuhren meine Frau und ich nach Stuttgart, wo ich mit Frank und Brigitte Teichmann, Herrn Lasch und Herrn Brinkmann ein Bewerbungsgespräch für die offene Bibliotheksstelle führte und offensichtlich bei Herrn Teichmann mit meinem Dissertationsprojekt über Schelling punkten konnte, so dass meine anthroposophische Unerfahrenheit mit wohlwollender Zuversicht übergangen wurde. Ganz leicht ist uns die Entscheidung für den Gang nach Stuttgart und in eine doch noch recht fremde Welt damals nicht gefallen, aber nachdem wir sie getroffen hatten, ging alles verblüffend schnell. Wir fanden schon am 21. Mai in Sillenbuch eine schöne Wohnung, in die wir am 21. Juli einzogen, befreundeten uns rasch mit den Nachbarn und traten am 15. September in die familiäre und erstaunlich »heile« Welt des Rudolf Steiner Hauses ein, die uns zunehmend beheimatete. Und das geschah für mich ganz »idealtypisch« direkt nach dem Durchlaufen meines 2. Mondknotens – wovon ich damals aber noch gar nichts wusste.
In den 30 Jahren, die meine Frau und ich dann in der Bibliothek wirken konnten, gab es im Rudolf Steiner Haus und im anthroposophischen Geistesleben durchaus einige Wechselbäder, aber die Verbindung von Menschen und Büchern in der Bibliotheksarbeit war immer sinnerfüllt. Schmerzhaft war in den letzten Jahren die zunehmende Polarisierung zwischen fundamentalisierenden und relativierenden Tendenzen, die aus der großen sozialen Welt in das anthroposophische »Biotop« übergriff und einerseits zu befremdender Unduldsamkeit, Rechthaberei und verbale Aggressivität und andererseits zum wachsenden Substanzverlust durch Anpassung an das Gängige führte. 2006 begann mit der Unterstützung der Damos Stiftung die bis heute fortgesetzte und durch Gelder manch anderer Stiftungen getragene Arbeit am Onlinekatalog mit einer Reihe von schrittweise entwickelten Erweiterungen. Ich halte diese Arbeit für ein immer wichtiger werdendes Gegengewicht zu der genannten Polarisierung, weil nur so die Wahrnehmung der Vielfalt an Stimmen und die Bildung eines geschichtlichen Bewusstseins und eines sich weitenden Horizontes möglich ist und zugleich auch die Entwicklung der Inhalte, um die es geht. Das ist Grundlage jeder echten Geisteswissenschaft, die ansonsten in der Abgeschlossenheit der sich verengenden Meinungskorridore oder der Anpassung ans gerade Aktuelle verloren gehen müsste.
Ganz besonders glücklich bin ich nun, meine Arbeit zur Fortsetzung und weiteren Entwicklung in die Hände eines Menschen übergeben zu können, der den Sinn für die Bedeutung des Brückenschlagens und der Wissenschaftlichkeit in sich mit echter Begeisterung für die spirituelle Seite der Anthroposophie verbindet. Fedaa Aldebal und ich konnten seit September letzten Jahres zusammenarbeiten und dabei eine gute freundschaftliche Beziehung entwickeln. So werden meine Frau und ich sicherlich immer wieder einmal eine Bibliotheksvertretung übernehmen, um ihm den Besuch der einen oder anderen Veranstaltung zu ermöglichen, und wir freuen uns, dass der Kontakt zu unseren langjährigen »Leserkunden« nicht ganz abbrechen wird.
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