Vorab-Auszug aus dem noch unveröffentlichten Kinderbuch von Hartwig Schiller
Am 14. August begann die 38 Kilometer lange Fahrt von Dals Långed nach Köpmannebro. Damit hieß es Abschied zu nehmen vom bergigen Dalsland. Seit geraumer Zeit hatte sich das Landschaftsbild allmählich verändert. Im Rückblick zeigte sich der eigene Charakter jedes durchfahrenen Sees. Der nordische Stora Le mit seinen schroffen Ufern, langgedehnten Hügelketten endloser Ausdehnung, der lieblichere Foxen, abgelegene, einsame Östen, sehnsuchtsvoll sich dehnende Silen, der karg-scharfe Svärtlång und der ins Sanftere fließende Laxsjön, die immer zivilisierter werdenden Übergänge zum Vänern.
Die Fahrt ging aus den tiefen, unbetretenen Wäldern allmählich hin zu den bewohnten, urbar gemachten Acker- und Weideflächen. Das Gestein wandelte sich vom allgegenwärtigen Granit zu Gneis und Sedimenten. Zuletzt trat großformatiger, scharfkantiger Schiefer auf. Immer häufiger und ausgedehnter wurden Wiesenflächen im Waldesgrün sichtbar. Entsprechend nahmen die Landwirtschaften zu, breitete sich weites Flachland. Felsiges Gestein trat nach wie vor auf, erhob sich aber nur noch in geringerer Höhe über die Seen. Die Inseln trugen weite Schilfgürtel um sich. Mit den neuen Eindrücken zog eine heimatliche Empfindung durch die Seelen.
In Dals Långed waren sie durch Abbildungen auf einen Ort mit Felsritzungen aufmerksam geworden. Jetzt liefen sie in den See Råvarp ein und sahen die Landzunge von Högsbyn vor sich liegen, auf deren Klippen sich 3000 Jahre alte Ritzungen finden. Das Gestein dieser Gegend ist kalkhaltig und erzeugt eine besondere Pflanzendecke. Auf den Trockenwiesen zwischen den Klippen wächst Blutweiderich, Minze und Süßgras.
Eine voluminöse Anlegebrücke aus Holz lud zum Verweilen ein und so durchstreiften sie das Gelände mit seinen 50 Konzentrationen von über 2000 Figuren und Zeichen von Menschen, Göttern, Schalen, Fußspuren, Kreisen, Schiffen, Schlitten und Werkzeugen. Darüber hinaus entdeckten sie zahlreiche Grabanlagen der Bronze- und Eisenzeit.
Viele Zeichnungen waren unschwer zu erkennen, andere unverständlich. Eine besondere Anziehungskraft übte die Darstellung eines Schiffes mit einem Saltospringer aus.
Der Vater forderte sie auf, sich die Darstellung ganz genau anzusehen:
„Könnt ihr vorn und hinten beim Schiff unterscheiden?“
Sie schauten konzentriert auf den Felsen.
Dann eröffnete Steffen: „Man kann den Steuermann klar erkennen.“
„Und was ist der Mittelpunkt der Darstellung?“
„Naja, der Mann, der einen Überschlag macht.“
„Aber was für einen Überschlag macht er?“
„Oh Ja! – Nach rückwärts!“
„Er macht also einen Salto rückwärts?“
Allseitig: „Ja!“
„Das stelle ich mir aber nicht so einfach vor, noch dazu mit einem Schwert an der Seite. Übrigens: Erinnert euch das Bild an etwas?“
Das war Johannas Moment: „Der Stierspringer von Kreta. Dort fassten bei bestimmten kultischen Handlungen Jünglinge einen laufenden Stier bei den Hörnern und sprangen im Salto über seinen Rücken. Der Stier senkte seinen Kopf und warf ihn zum Stoß in dem Augenblick hoch, in dem der Jüngling ihn bei den Hörnern packte. Durch den Schwung seines Anlaufs und den Stoß des Stieres konnte der Jüngling über den Rücken springen.“
„Du hast recht. Es sieht sehr ähnlich aus. Die Darstellungen in Kreta und hier in Tisselskog sind übrigens zur gleichen Zeit entstanden. – Entdeckt ihr einen Unterschied?“
Johanna: „Der Kreter sprang in Laufrichtung, der hier rückwärts.“
Bjarne grübelte: „Aber warum? Rückwärts ist doch viel schwieriger!“
„Das genau ist das Rätsel, das wir lösen müssen. – Was beweist der kretische Springer?“
„Woher soll ich das wissen“, maulte Bjarne
„Doch, das kannst du wissen. Du kennst doch das Sprichwort «Den Stier bei den Hörnern packen». Was soll damit gesagt werden?“
„Dass man ein Problem nicht auf die lange Bank schieben, sondern anpacken soll“, erklärte Steffen.
„So ist es“, fuhr der Vater fort, „und was gehört dazu?“
„Mut“, erscholl es aus vier Kehlen.
„Das meine ich auch“, ergänzte der Vater. „Man soll der Gefahr ins Auge schauen und sie furchtlos angehen. Dabei gibt es allerdings ein Problem.“
„Ja, wenn man Schiss hat“, bestätigte Steffen.
„Durchaus “, setzte der Vater fort, „man kann zu viel Schiss haben. Das zweifache Problem ist aber, dass man auch zu wenig Schiss haben kann. Mut und Übermut sind manchmal nicht weit voneinander entfernt. Wie bewegt sich der Stierspringer?“
„In Laufrichtung“, erklärte Paul.
Ja“, griff der Vater auf, „genau wie ein wütender Stier. Der rennt auch immer geradeaus ins Verderben. Er sieht die Gefahr nicht, weil ihm das Blut zu Kopf gestiegen ist und blind macht.“
Die Kinder hatten gleichzeitig einen Einfall. „Mit dem Schiff bewegt sich der Saltoschläger vorwärts und gleichzeitig springt er nach rückwärts.“
Der Vater jubelte: „Ihr habt’s.“ Und dann wurde er ausführlich:
„Die Felszeichnung zeigt eine Doppelbewegung. Das Schiff fährt vorwärts, der Salto verläuft rückwärts. Indem das Schiff vorwärtsfährt, bewegt sich der Springer gleichzeitig rückwärts. Er behauptet seinen Ort im Raum. Die Blickrichtung von Reisenden geht in der Regel voraus, der Zukunft entgegen. Viele können nicht schnell genug ans Ziel kommen. Natürlich gibt es auch Leute, die gern verweilen, in der Vergangenheit bleiben, sich nicht aus dem Gewohnten lösen wollen. Sie bleiben zurück, sind an die Vergangenheit gefesselt. Gegenwart wird dem genommen, den der Sog aus der Zukunft mitreißt. Aber auch der kennt keine Gegenwart, der von der Vergangenheit zurückgehalten wird. Der Saltoschläger von Tisselskog löst dieses Dilemma, indem er die beiden Raumesrichtungen zu einer zeitlichen Einheit verbindet: der Gegenwart. Denn im Vorausfahren bewahrt er den Blick auf das Vergangene und im Rückblick bewegt er sich voran. Er demonstriert wahre Geistesgegenwart und meistert den Doppelstrom der Zeit. Denn Zeit gewinnt nur der Geistesgegenwärtige. Sowohl Zukunft wie auch Vergangenheit entfremden den Menschen seiner selbst. Nur der Mensch hat Geschichtsbewusstsein."
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