Die Luftlinie ist für uns die kürzeste Entfernung zwischen zwei Orten. Sie ist der Weg ohne Umwege. In der geistigen Welt ist das anders. Dort, so Rudolf Steiner, ist die gerade Linie von A nach B der längste Weg. »Jeder andere Weg ist kürzer, weil jeder andere in der geistigen Welt frei gegangen werden kann.«[1] Es sei dort das aller Schwerste, die Gerade in jedem einzelnen Punkt genau einzuhalten, das verlangsame am allermeisten. – Vielleicht, weil hier bei jedem Schritt die Aufmerksamkeit ganz von einem Vorgegebenen gebunden ist und wir diesen Weg nicht in Freiheit gehen können.
Jedenfalls ist in der geistigen Welt alles anders. Sie ist nicht einfach die Fortsetzung unserer hiesigen Welt unter etwas veränderten Bedingungen. Das kann ein Kriterium für die Beurteilung mancher hellsichtiger Forschung sein: Wenn der Verdacht aufkommt, dass man es mit einer Projektion des Diesseits auf das Jenseits zu tun hat, bei der einfach drüben alles so ähnlich ist wie hier, stimmt etwas nicht.
Bei den Ahnungen vom Übernatürlichen, die auch ein Nicht-Hellsichtiger haben kann, geht es eher darum, ein Unvorstellbares vorstellbar zu machen. Dieser Zumutung müssen wir uns aussetzen, wenn wir nicht einfach die Schwelle überspringen wollen, wenn wir uns also der Unmöglichkeit, mit hiesigen Mitteln Aussagen über das Jenseits zu treffen, bewusst sind.
Ein solches Bewusstsein kommt in uns auf, wenn wir das Moment der Umkehrung erspüren. Von Umkehrungen bzw. Umstülpungen spricht Rudolf Steiner verschiedentlich, so z.B., wenn er darlegt, dass sich das Verhältnis von innen und außen in der geistigen Welt radikal ändert. Da ergebe sich dem hellseherischen Bewusstsein »eine vollständige Umkehrung alles Weltanschauens«. Wenn wir uns hier von Bergen, Flüssen, Wäldern etc. umgeben sehen und uns selbst an einem fixen Punkt in dieser Welt verorten, so verschwindet drüben diese Wahrnehmung. Dort findet man sich in die Welt ausgegossen. Sie steht einem nicht mehr gegenüber. Die Subjekt-Objekt-Relation gibt es nicht mehr: »Du erfüllst bis zu einer gewissen Grenze den ganzen Raum, und du webst selber in der Zeit.«[2]
Konkreter noch wird dieses Umkehrerlebnis, wenn wir auf ein physisch Inneres wie unsere Organe schauen: »So wie Sie jetzt zu ihrem Ich gehörend Ihre Lunge ansehen, so sehen Sie dann zwischen dem Tode und einer neuen Geburt die Sonne und den Mond als Ihre Organe an, als dasjenige, was in Ihnen drinnen ist.«[3] – Auf diese Weise wird das Unvorstellbare indirekt vorstellbar, allerdings ungeheuer anders. Wir erleben die Grenze unserer Vorstellungskraft und gehen doch zugleich einen kleinen und bedeutenden Schritt darüber hinaus.
[1] Rudolf Steiner: Initiationserkenntnis, GA 227, Vortrag vom 21.8.1923
[2] Rudolf Steiner: Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 153, Vortrag vom 9.4.1914
[3] Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität, GA 214, Vortrag vom 22.8.1922
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