Im Märchenschatz der Brüder Grimm ist es „die kluge Else“, der auf dem Weg leiblicher Fürsorge immerfort neue Risiken und Gefahren in den Sinn kommen und an der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben hindern. Ergriffen von einer „Klugheit“, die sich letztendlich als Dummheit ausnimmt, wird ihre Seele zum Schauplatz konjunktivischer „hätte“, „könnte“, „würde“, „wäre“, und damit zu einem Kaleidoskop paralysierender Ängste.
Auslöser ist eine Kreuzhacke, die von Maurern an der Decke des Kellergewölbes vergessen wurde, aus dem sie frisches Bier heraufholen soll. „Wenn diese Kreuzhacke einmal herunterfallen und ein Menschenkind treffen würde!“, jammert die kluge Else und vergisst darüber ihren Auftrag. Bezeichnend für Elses Paranoia ist jedoch nicht allein der Anlass, mehr noch sind es die Umstände, die ihr Dilemma verraten.
Nach Auskunft ihrer Eltern hat sie „Zwirn im Kopf“, „sieht den Wind auf der Gasse laufen“ und „hört die Fliegen husten“. Auf den Kellerstufen klappert sie ostentativ mit dem Deckel des Krugs, um einen Schein von Eifer zu erzeugen, stellt ein Stühlchen vors Fass, damit sie sich nicht zu bücken braucht und ihren Rücken schont. Sie stellt die Kanne unter den Hahn, dreht auf und lässt während der Zeit, in der das Bier hineinläuft, „ihre Augen munter schweifen“.[1] Der ziellose Blick entdeckt die Unheil verheißende Kreuzhacke.
Kreuzhacken sind seit grauen Vorzeiten Werkzeuge zur Bearbeitung der Erde, Urbild des Menschseins nach der Vertreibung aus dem Paradies, denn: „Im Schweiß deines Antlitzes magst du Brot essen, bis du zum Acker kehrst, denn aus ihm bist du genommen.“ So sprach der Schöpfergott als er den Menschen vertrieb „und ließ vor dem Garten von Eden ostwärts die Cheruben wohnen und das Lodern des kreisenden Schwerts, den Weg zum Baum des Lebens zu hüten.“[2] Die Vertreibung markiert den Geburtsmoment der Arbeit im Mensch-Sein, Voraussetzung für Kultur und Freiheit.
Vorgebliche Klugheit verleiht zuweilen koketten Reiz. Im Märchen ergreift sie Hans, den Knecht. Überwältigt von ihrer außerordentlichen Subtilität schluchzt er: „Was haben wir für eine kluge Else! Mehr Verstand ist nicht nötig, weil du so eine kluge Else bist, so will ich dich haben.“ Er „packte sie bei der Hand und nahm sie mit hinauf und hielt Hochzeit mit ihr.“
Im ehelichen Alltag verblasste der helle Klugheitsschein alsbald. Für den Gang zur Feldarbeit bereitete sich Else einen guten Brei und nahm ihn mit. Vor dem Acker angekommen bewegte sie die Frage nach dem Zuerst: – Mähen oder Essen? Die Klugheit riet zum Selbsterhalt. Anschließend aber quälte ein weiteres Entweder – Oder: Erst Schneiden oder doch besser Schlafen?
Als der ernüchterte Hans sie spät abends auf dem Feld findet, umgarnt er sie mit Vogelzwirn und Schellen, läuft heim, setzt sich auf einen Stuhl und schließt die Haustür. Bei hereinbrechender Dunkelheit erwacht Else. Um sie herum rappelt es und bei jedem Schritt klingt es und klappert. Sie fragt sich bestürzt: „Wer bin ich? – Bin ich’s oder nicht?“ Wer kann ihr helfen? Sie läuft nach Haus, findet die Tür verschlossen und ruft: „Hans ist die Else drinnen?“ „Ja“, antwortet Hans, „sie ist drinnen.“ Erschrocken sagt sie sich: „Ach Gott, dann bin ich’s nicht!“ Eine andere Antwort findet sie nirgendwo. Alle Türen bleiben ob des Schellengeklingels verschlossen. Da läuft sie zum Dorf hinaus.
In der Märchenwelt gibt es verschiedene Erzählungen wie „Der gescheite Hans“, „Das kluge Gretel“, „Die klugen Leute“ oder „Der kluge Knecht“, in denen vermeintliche Klugheit als Dummheit entlarvt wird. „Dumme“ Menschen kennen keine Angst. Parzival, „der tumbe Tor“ sucht das blinde Abenteuer, weil es ihm an aufgeklärtem Verstand fehlt. Naivität schützt nicht vor Dummheit, wohl aber vor Angst.
Ängste treten als Lähmungszustände auf, in denen Ungewissheit die Zuversicht der Lebenskräfte überschattet. Im Märchen ist es der Gang in den Keller, der die Angstfurien erregt. Es ist der Weg des unter dem Bewusstseinsspiegel Liegende, ins Dunkle der Seele, den Schrecken des Unbekannten, nicht klar Ersichtlichen.
Der Sprachgeist kennt differenzierte Worte für Angstzustände. Sie deuten auf starke konstitutionelle Einwirkungen. So hat sich das Wort Angst aus dem althochdeutschen „angust“ entwickelt, das auf „Enge, Beengung, Bedrängnis“ hinweist. Sprachwendungen wie „es schnürt die Kehle zu“ oder „es legt sich ein Alb auf die Brust“ zeugen von beklemmenden Angstzuständen.
Furcht weist hingegen auf das Einkerben von Spuren, von Furchen hin, die der Bauer beim Pflügen des Feldes aufwirft. Angst wie Furcht sind Seelenzustände, die durch bestimmte Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Ereignisse hervorgerufen werden. Sie entstehen als dramatische Geschehnisse an der Grenze, an der physiologische Prozesse zu psychologischen Erlebnissen werden und markieren einen qualitativen Sprung von physisch nachverfolgbaren Abläufen zu unstofflich-seelischen Erlebnissen.
Angst bezeichnet dabei einen eingetretenen Ist-Zustand während im Fürchten ein gewisser Latenzcharakter liegt. Furcht kündigt etwas an, das noch nicht eingetreten ist, sondern befürchtet wird. Angst hat eine stärkere Dichte, ergreift das physische Sein stärker als Furcht, die mehr im Bereich unbestimmter Kraftwirkungen spielt.
Sorge ist die graue dritte Schwester von Angst und Furcht. Sie erfüllt die Seele mit Besorgnis, Unruhe, Kummer und Ungewissheit. Wolfram von Eschenbach stellt im Prolog des Parzival fest:
Ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sêle werden sûr.
Sorge geht mit Unsicherheit einher, einem ätzenden Zustand, der von Säuerlichkeit geprägt und von Zweifel gezeugt ist.
Doch wie das Elsterngleichnis Wolframs zeigt, gehört der aufgeklärte Mensch nicht einseitig der Welt des „Entweder – Oder“ an. Es ist gerade der Bezirk des „Sowohl als Auch“, der aus der sauren Kümmernis die wohltuende Besorgnis um den anderen Menschen, Mitleid und Fürsorge entstehen lässt. Parzival wird erst des Grals würdig als er die Frage der Fürsorge zu stellen gelernt hat:
Oeheim, waz wirret dir ?
Im Schatten liegt auch das Offensichtliche. Es sind die Schattenseiten der Persönlichkeit, die sich den Mitmenschen als alberne Eitelkeit, schamlose Rücksichtslosigkeit, als ungesunder Ehrgeiz und Stolz zeigen. Im anthroposophischen Begriffshorizont werden die blinden Flecken des Selbstbildes als Eigenschaften des Doppelgängers bezeichnet. Solange der Mensch die Erkenntnis seines Doppelgängers scheut, macht ihn dessen undeutlich geahnte Kontur unsicher.
In Rudolf Steiners Mysteriendrama „Die Pforte der Einweihung“ wird die Doppelgängererfahrung des Johannes Thomasius aus dem Miterleben seines Freundes Capesius geschildert:
Wie war mir eben? Wie ein schwerer Alp
Belastet’s mich. Thomasius kam des Weges;
Er schien in tiefes Sinnen mir versunken.
Er blieb dann stehen, wie mit jemand sprechend,
Und doch war niemand außer ihm am Orte.
Ich fühlte, wie wenn schwere Angst mich drückte;
Ich sah nicht mehr, was dann um mich geschah.
Das Gewahrwerden des verborgenen Seins, das doch ein wahrer Teil meines Selbstes ist, erfüllt den Menschen mit Furcht, Scham und Schrecken. Es ist Angst einflößend. Scham webt jenen verhüllenden Schleier, der das unerwünschte Geheimnis zu verbergen pflegt. Der Mensch „hat nämlich etwas in sich, was ihn an einer tiefergehenden Selbsterkenntnis hindert. Es ist dies ein Trieb, sogleich, wenn er durch Selbsterkenntnis sich eine Eigenschaft gestehen muss und sich keiner Täuschung über sich hingeben will, diese Eigenschaft umzuarbeiten.
Gibt er diesem Trieb nicht nach, lenkt er einfach die Aufmerksamkeit von dem eigenen Selbst ab und bleibt er, wie er ist, so benimmt er sich selbstverständlich auch die Möglichkeit, sich in dem betreffenden Punkte selbst zu erkennen. … So ist dieses Gefühl der Verhüller des Menschen vor sich selbst. Und damit ist es zugleich der Verhüller der ganzen geistig- seelischen Welt.“
Was als verhüllender Trieb des Schämens geschildert wird, ist die sowohl identische wie auch oppositionelle Kraft des Doppelgängers im Leben des Individuums. „Der Doppelgänger wirkt für das Leben des Menschen in der physisch-sinnlichen Welt so, dass er sich durch das gekennzeichnete Gefühl des Schämens sofort unsichtbar macht, wenn sich der Mensch der seelisch-geistigen Welt naht. Damit verbirgt er aber auch diese ganze Welt selbst. Wie ein «Hüter» steht er da vor dieser Welt, um den Eintritt jenen zu verwehren, welche zu diesem Eintritt noch nicht geeignet sind. Er kann daher der «Hüter der Schwelle, welche vor der geistig-seelischen Welt ist», genannt werden.“[3] Die Wirkung des Doppelgängers tritt überall dort auf, wo die Grenze zwischen bewussten und unbewussten Bezirken des Daseins verläuft.
Eine Weltanschauung, die nur das Stoffliche als wirklich anerkennt, während sie Seele und Geist als bloße Funktionen des Stofflichen betrachtet, verschließt sich innerlicher Erfahrung und Erkenntnis. Sie bequemt sich mit den der äußeren Wahrnehmung zugänglichen Eindrücken. Schließlich entwickelt sie Angst davor, ins Leere zu greifen, wenn man sich nicht auf die äußere Natur beschränkt. Allerdings wühlt im Untergrund der Seele ein sublimes Wissen von der Existenz einer geistigen Welt und der Materialist erfindet sich „eine Scheinlogik, die die Berechtigung der Geist-Erkenntnis bestreitet“. Deshalb erfindet er alle möglichen Scheingründe, die es ihm ersparen, das Geistige anzuerkennen, weil er „in Angst vor ihm zurückbebt.“[4]
In der 1904 veröffentlichten „Theosophie“ unterscheidet Rudolf Steiner mit den Begriffen von Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewusstseinsseele verschiedene Qualitäten des Seelenlebens.
Die Empfindungsseele wandelt die Wahrnehmungen der Sinneseindrücke zu Innenerlebnissen, die eine basale Schicht von Bewusstsein bewirken. Dadurch entsteht die Grundlage subjektiver Existenz des Menschen, welche auch die Leidenschaften, Affekte, Zorn, Furcht und Angst umschließt. In der Empfindungsseele vollzieht sich der qualitative Sprung von körperlichen Funktionsabläufen zu bewussten Erlebnissen, von Leben zu Bewusstsein. Dadurch schafft sie eine neue Seinsebene und bleibt doch leibabhängig. Ohne Sinnesorgane und physikalisch-chemische Prozesse keine Wahrnehmungen der Sinne, ohne Seele keine Subjektivität.
Demgegenüber emanzipiert sich die Verstandes- oder Gemütsseele. Sie setzt sich intellektuell mit den Eindrücken auseinander, welche ihr die Empfindungsseele vermittelt. Sie ordnet, strukturiert und kalkuliert. Der Mensch als Subjekt wird durch sie zum Akteur. Der Verstand eröffnet Wege, sich die Welt nutzbar zu machen. Zugleich ermöglicht ihm die fortschreitende Ausbildung seiner Innenwelt höhere Gemütsregungen wie Anteilnahme, Wohlwollen und Mitgefühl. Die Verstandes-seele wird zum Schauplatz des Ich, „dem eigentlichen Mittelpunkt unseres Seelenlebens.“[5] Verstand und Vernunft sind Intelligenzen verschiedener Wärmegrade. Was der Verstand gliedert, erfasst die Vernunft im Zusammenhang. Der Verstand stellt gegenüber, die Vernunft schließt zusammen.
Die Bewusstseinsseele entwickelt ein drittes Niveau der Seelenfähigkeit. Mit Goethe kann sie als ein Seelenvermögen beschrieben werden, das die Welt nicht nach „Gefallen oder Missfallen, Anziehen oder Abstoßen, Nutzen oder Schaden betrachtet, sondern die Welt als gleichgültiges und gleichsam göttliches Wesen sucht und untersucht auf das, was ist und nicht was behagt. Mit einem gleichen ruhigen Blick sieht sie die Welt an und nimmt dabei den Maßstab zur Erkenntnis, die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreis der Dinge, die sie beobachtet.“[6] In der Theosophie nennt Rudolf Steiner die Bewusstseinsseele den „Kern des menschlichen Bewusstseins, also die Seele in der Seele“ und fasst zusammen: „Die Wahrheit ist wahr, auch wenn sich alle persönlichen Gefühle gegen sie auflehnen. Derjenige Teil der Seele, in dem diese Wahrheit lebt, soll Bewusstseinsseele genannt werden.“[7]
Demgegenüber findet sich der heutige Mensch in einer aufgewühlten Wetterlage von Leidenschaften und Affekten, einem Gemenge von Selbstempfindung, Selbstbehauptung und Selbsterhaltung. Es handelt sich um das Erbe der „klugen Else“, einer verkehrten Welt, in der Selbstbewusstsein zugleich Selbstvergessenheit und Selbstverleugnung ist. Denn das Dilemma materialistischer Narretei ist, dass sie für das Wesen des Menschen und seine Aufgaben blind macht. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der Heilkunst. Da wird Menschenverständnis auf dem Weg mathematischer Systeme gesucht, die für physikalische Strukturen und quantitativer Relationen nützlich, für den Lebensbereich des Seelisch-Geistigen jedoch allenfalls partiell tauglich sind.
Im Mai 1905 äußerte sich Rudolf Steiner zu den Aufgaben einer medizinischen Fakultät.[8] Bei der Gelegenheit ging er von einer Prämisse aus, die gegenwärtig kaum ein Arzt teilen würde: „Der Arzt, der sich die Aufgabe gesetzt hat zu heilen, ist freier als der Jurist.“ Freilich geht er dabei von einem Begriff wirklicher Heilung im Unterschied zu Vorgehensweisen aus, die Symptome mit Krankheitsursachen gleichsetzen und behandeln. Voraussetzung dafür sei es, sich von Vorurteilen und autoritären Vorgaben zu befreien. Auch wenn es heute abwegig erscheine, könne viel aus der Geschichte der Medizin, von Gestalten wie Galen, Paracelsus oder den Medizinmännern der Hindus gelernt werden. Dort sei man davon ausgegangen, dass derjenige, der Heilen wolle das Leben aus dem ganzen Umfang seiner Geheimnisse aufgenommen haben muss. Als Beispiel dafür führt Steiner das Heilen von Schlangenbissen an, welche Hindu-Ärzte praktizieren. Sie wenden dazu „ein Prinzip an, das der Immunisierung zugrunde liegt, der Impfung, wie wir sie kennen, mit einem Heilserum. Es ist das das Bekämpfen einer gewissen Krankheitsform, indem der Krankheitserreger selbst als Heilmittel angewendet wird. [Sie] heilen Schlangenbisse, indem sie die Wunde mit ihrem Speichel bearbeiten. Durch Trainierung ist der Speichel vorbereitet, die Ärzte haben sich selber immun gemacht gegen Schlangenbisse, gegen Schlangengift, durch Schlangenbisse am eigenen Körper. Es ist ihre Auffassung, dass der Arzt auch leiblich etwas bewirken kann durch etwas, was er in sich selber entwickelt. Alle Heileinwirkungen von Mensch zu Mensch beruhen auf diesem Prinzip.“[9]
Man muss Hineinschlüpfen in das Wesen des anderen, es sich aneignen, dann kann das Selbst das Andere, das Gleiche ein Gleiches heilen. Dieses Prinzip haben sich Ärzte wie Ludwig Noll oder Otto Eisenberg zu eigen gemacht. Steiner zitiert Paracelsus mit den Worten: „Wenn wir um uns umherblicken, sehen wir gleichsam die Buchstaben eines Alphabets; nur im Menschen sind sie zu einem Wort vereinigt; daher liegt in ihm der Sinn dessen, was um ihn herum ausgebreitet ist.“[10] Das leitete sie auf dem Weg einer eigenen Arzneimittelforschung, die unter anderem ein bedeutender Grundstock der Weleda-Arzneimittel wurde.
Paracelsus verstand die Heilkunst als eine Vereinigung von Natur- und Gotteserkenntnis: „Denn der Mensch kann nur vom Makrokosmos aus erfasst werden, nicht aus sich selbst heraus. Erst das Wissen um diese Übereinstimmung vollendet den Arzt.“ Im Arzt sollten daher Philosophie, Theologie, Kosmologie und Alchemie zusammenfließen, um dem Arkanum, dem Geheimnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung des Menschen auf die Spur zu kommen.
In „Die Kunst des Liebens“ fasste Erich Fromm die Grundlagen paracelsischen Wirkens in einem charakteristischen Zitat zusammen: „Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts tun kann, versteht nichts. Wer nichts versteht, ist nichts wert. Aber wer versteht, der liebt, bemerkt und sieht auch. … Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt, desto größer ist die Liebe. … Wer meint, alle Früchte würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif, versteht nichts von den Trauben.“[11]
„Die Erkenntnis gibt den Glauben“ stellt Paracelsus als Fundament dieser Einsicht fest.[12]
Hohe Forderungen für das Heilen werden damit jedoch nicht allein an den Arzt gestellt. Heilung des Gleichen durch das Gleiche, eine „Immunisierung“ durch die vom Arzt angeregten Selbstheilungskräfte kann nur dort gelingen, wo ein Verhältnis von Gleich zu Gleich entsteht. In dieses Verhältnis passt weder der autoritäre „Gott in Weiß“ noch das willenlose „einfältige Schaf“. In der Arzt–/ Patientenbeziehung muss ein Ichhaftes beidseitig wirken.
Das ist weder bei der klugen Else noch beim ernüchterten Hans der Fall. Im ersten Fall dominieren die Erlebnisse der Empfindungsseele das Ich und prägen den Subjektivismus des Persönlichen. Im kaltschnäuzigen Hans dominiert hingegen die Schattenseite der Bewusstseinsseele, die sich den Primäreinflüssen der Empfindungsseele gegenüber behauptet, dabei aber der Gefahr von Abgrenzung und Vereinsamung aussetzt. Beide Möglichkeiten treten als Krankheitsbilder des Seelenlebens als Selbstliebe bzw. Selbstisolation auf und nehmen pandemisches Ausmaß an. Bekannt sind sie als Narzissmus und Autismus, pathogene Störungen des Innenlebens, von denen das Selbst- bzw. das Weltverhältnis des Ich betroffen ist.
Diese Störungen werden nicht zuletzt in vielfältigen Angstzuständen bemerkbar. Denn in einem tiefer aufgefassten Heilen kann ärztliche Hilfe durch den Patienten als Angriff auf den narzisstischen Komplex oder als Schwächung seines Strebens nach Autonomie empfunden werden.
Diese Tatbestände könnten unter Umständen auch die Hysterie widerstreitender Meinungsäußerungen zur aktuellen Gesundheitskrise sowie die wundersame Wandlung von Impfgegnern zu Impfdränglern erklären. Die Impfbereitschaft hat sich nach Erhebungen von Infratest-dimap von 85:15 zu 15:85 verändert. Angst wird durch erwartete oder überraschend eintretende Schrecknisse ausgelöst. Furcht kann eine Hilfe zur Vorbereitung und Abwehr von Gefahren sein. Liebende Sorge entwickelt die mitfühlende Seele im sozialen Zusammenhang.
Rudolf Steiner betonte: „Theosophie ist nichts, was innerhalb einiger müßiger Köpfe Platz greifen soll, die nichts Besseres zu tun haben, sondern sie soll in das praktische Leben eingreifen.“[13] Davon hängt die ganze Hoffnung der klugen Else ab. Denn: „Das Ich brütet dumpf in dem, was wir Empfindungsseele nennen. Das Ich arbeitet sich dann erst heraus, kommt erst zum Vorschein in der Verstandes- oder Gemütsseele und wird ganz klar erst in der Bewusstseinsseele.“[14] Dem aber gilt Elses Sehnsucht nach einer gesunden Zukunft.
[1] Brüder Grimm, Die kluge Else, Märchen 34 in der Ausgabe von 1819
[2] Buber, Rosenzweig, Die Schrift (1929), 1. Mose 3
[3] Rudolf Steiner, Die Erkenntnis der höheren Welten, in: Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA13, Dornach 301989, S. 377ff
[4] Rudolf Steiner, Das Seelenwesen in Seelenmut und Seelenangst, in: Der Goetheanum-gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart, GA 36, Dornach 1961, S.362
[5]Die Mission der neuen Geistesoffenbarung, Dornach 21989, GA127, S. 43
[6] Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, in: Naturwissenschaftliche Schriften 1792-1797, Berlin 1990
[7] Rudolf Steiner, Theosophie, GA9, Dornach 311987, S.46
[8] Rudolf Steiner, Die medizinische Fakultät und die Theosophie, in: Ursprung und Ziel des Menschen – Grundbegriffe der Geisteswissenschaft, Dornach 21981, GA53, S. 468ff
[9] aaO, S. 470
[10] Rudolf Steiner, Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis, Dornach 21982, GA100,S.138
[11] Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Aus dem Englischen von Liselotte und Ernst Mickel, München 132007, S. 6
[12] Paracelsus, Labyrinthus medicorum errantium (Irrgarten der Ärzte), herausgegeben von Karl Sudhoff. Leipzig 1915, 9. Kapitel S. 82 f.
[13] GA100, S. 16
[14] Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen, Dornach 62017, GA121, S.59
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