In den letzten Jahren begegnen uns immer wieder Situationen, in denen eine Entscheidung getroffen werden muss – aber egal, wie wir sie treffen, sie ist falsch. Es stellen sich Grundsatzfragen wie die, ob Sicherheit oder Freiheit den Vorrang hat oder wieviel Ungerechtigkeit und Unterdrückung um des Friedens willen hingenommen werden können. Immer wieder wird die Toleranz ad absurdum geführt, wenn sie gegenüber der Intoleranz eingeklagt wird. Mit diesen Herausforderungen sind wir alle heute konfrontiert. Erstaunlich ist, dass der Autor des Johannesevangeliums auch Christus wiederholt in solchen Situationen zeigt. Und nirgendwo kommt mir das Wesen Christi dabei so nahe wie im Nachvollzug dieser Erzählungen, beispielsweise in der Geschichte von der Ehebrecherin.
Die Pharisäer versuchen Christus eine Falle zu stellen, ihn nämlich in eine solche Zwickmühlen-Situation zu bringen, aus der es keinen Ausweg gibt. So sprechen sie ihn schmeichelnd als »Meister« an und bitten ihn um sein Urteil im Fall einer Frau, die gerade beim Ehebruch ertappt wurde. Nach dem Gesetz des Mose müsse sie gesteinigt werden. Was sagt er dazu? – Würde Christus sich gegen die Vollstreckung der Strafe aussprechen, dann würde er sich schuldig machen; würde er hingegen die Steinigung befürworten, dann würde er nicht nur sich selbst zuwiderhandeln, sondern das Volk würde ihn und nicht die Pharisäer für die unbarmherzige Hinrichtung verantwortlich machen.
Solche Situationen, in denen man vor einem Entweder-oder zu stehen scheint, für das es kein Ausweg in ein Sowohl-als-auch gibt, sind die Geburtsstunden von Märtyrern oder die seelischen Todesstunden von Menschen, die sich selbst zuwidergehandelt haben, die weiterleben, aber gebrochen sind. Das Gefährliche solcher Situationen ist, dass sie etwas Hypnotisches an sich haben: In ihnen verengt sich das Blickfeld, und von beiden Abgründen geht ein Sog aus. Unausweichlich muss etwas offenbar werden: Entweder die fundamentalistische Schrifttreue oder die das Gesetz relativierende Selbstüberhebung.
Die Gestalt Christi, die uns der Evangelist Johannes im Erzählen dieser Geschichte zeichnet, blickt uns deshalb so intensiv an, weil sie uns in der souveränen Sprache der Handlung entgegenkommt. Dass Christus sich bückt und in die Erde schreibt, ist so unvorhersehbar und unbegreiflich, dass den Versuchern nichts Besseres einfällt, als ihre Frage zu wiederholen. In der Wiederholung eines ursprünglich genialen Vorstoßes liegt aber Schwäche. Es ist die Schwäche, die jedem Fundamentalismus innewohnt, der seine Quelle wörtlich nimmt, sie verabsolutiert und wiederholt. Aus dieser Schwäche entspringt Unduldsamkeit und Härte.
Christus macht das Gegenteil. Er richtet sich auf und interpretiert das Gesetz neu. Die Torah spricht davon, dass die Zeugen den ersten Stein werfen werden. Darauf bezieht sich Christus, wenn er sagt, dass der, der ohne Sünde ist, den ersten Stein werfen möge. Diese Neuinterpretation der Torah sprengt die Zwickmühle, in der man Jesus dazu bringen wollte, sich schuldig zu machen.
Nach diesem Wort geschieht nichts. Christus, der sich aufgerichtet und gesprochen hat, steht da. Eine neue Situation bildet sich. Er bückt sich nochmals und schreibt wieder in die Erde. Diese Wiederholung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Bestärkung. Die Pharisäer verlassen den Ort des Geschehens, bevor sich Christus wieder aufrichtet. Das Karma ist in die Erde geschrieben – so interpretiert Rudolf Steiner die Handlung, mit der Christus die Situation verwandelt. Aber er interpretiert zugleich auch von dieser Geschichte her den Karmagedanken. Der bedeute nämlich »nichts Geringeres«, als dass »kein Mensch sich zum Richter über andere Menschen aufwerfe«. (Vortrag vom 26.05.1908, GA 103, Dornach 1995, S. 132). Richtig verstanden entlastet uns der Karmagedanke vom innerlichen Urteilen und Verurteilen anderer Menschen. Durch das In-die-Erde-Schreiben wird die Schuld nicht einfach nur vergeben und dabei gering geachtet, sondern auch bewahrt.
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